Marquard, der diesen Mittwoch 75 wird, lehrte von 1965 bis 1993 an der Universität Gießen Philosophie und erhielt 1996 den Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik. Er veröffentlichte unter anderen die Bücher «Skeptische Methode im Blick auf Kant» (1958) und «Abschied vom Prinzipiellen» (1981). Jetzt erscheint bei Reclam sein Essay-Band «Zukunft braucht Herkunft». ——————————————————————-
SPIEGEL: Herr Professor Marquard, Sie publizieren Ihre Essays unter dem Titel «Zukunft braucht Herkunft». Heißt das – bei allem Respekt vor Ihrem Alter und Ihrer Weisheit – so viel wie «Ich werde noch gebraucht, bitte vergesst mich nicht»?
Marquard: Es steckt natürlich drin. Aber ich bin kein philosophischer Missionar, ich habe keine Weltbeglückungspläne, die die Menschheit nur ja nicht vergessen soll. Trotzdem denke ich manchmal in diese Richtung, weil ich die aktive Laufbahn als Hochschullehrer hinter mir habe.
SPIEGEL: Sehen wir von Ihrer Person einmal ab. Wieso braucht Zukunft Herkunft?
Marquard: Weil für zu viel Veränderung das Menschenleben zu kurz ist. Wir haben einfach nicht die Zeit, alle oder auch nur die meisten Dinge unseres Lebens neu zu regeln. Unser Tod ist stets schneller als die meisten unserer Änderungen. Weil darum die Freiheit zum Neuen begrenzt ist, müssen wir überwiegend herkömmlich leben – es bleibt dann noch die Chance, unsere Herkunftshaut neu zu verstehen und dadurch ihr gegenüber geistig frei zu werden, obwohl wir aus ihr nicht heraus können.
SPIEGEL: Aus der Kürze der Lebenszeit lässt sich auch ein ganz anderer Schluss ziehen: Das Leben ist so kurz, dass wir keine Zeit für Vergangenes haben.
Marquard: Aber das uns prägende Vergangene ist doch immer schon da – Familie, Sprache, Institutionen, Religion, Staat, Feste, Geburt, Todeserwartung -, wir entkommen ihm nicht. Wo wir anfangen, ist niemals der Anfang. Vor jedem Menschen hat es schon andere Menschen gegeben, in deren Üblichkeiten – Traditionen – jeder hineingeboren ist und an die er, Ja sagend oder negierend, anknüpfen muss. Das Neue, das wir suchen, braucht das Alte, sonst können wir das Neue auch gar nicht als solches erkennen. Ohne das Alte können wir das Neue nicht ertragen, heute schon gar nicht, weil wir in einer wandlungsbeschleunigten Welt leben.
SPIEGEL: Manche Menschen wandeln sich täglich mit.
Marquard: Weil sie einem alten Mythos der Moderne aufsitzen, der den schnellen Wandel von allem und jedem – nach dem Vorbild des technischen Fortschritts – zu fordern scheint. Aber da ist eine Schwierigkeit: das wachsende Veraltungstempo. Je schneller das Neueste zum Alten wird, desto schneller veraltet auch das Veralten selbst, und umso schneller kann Altes wieder zum Neuesten werden. Rascher Wandel schafft Vertrautheitsdefizite. Kinder, für die die Wirklichkeit unermesslich neu und fremd ist, tragen ihre eiserne Ration an Vertrautem überall bei sich – ihre Teddybären. Mein Teddybär ist ein Plüschlöwe, den ich mir irgendwann in Polen gekauft habe. Die Teddybären der Erwachsenen sind zum Beispiel auch ihre Klassiker. Mit Goethe durchs Jahr. Mit Habermas durchs Studium. Mit Reich-Ranicki durch die Gegenwartsliteratur.
SPIEGEL: Lassen wir die Literatur einmal beiseite – was haben Sie gegen den Teddybär Habermas?
Marquard: Ich sagte doch, wir brauchen Teddybären. Also auch ihn. Der Frankfurter Schule, für die er steht, besonders der «Dialektik der Aufklärung» von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno sowie Adornos «Minima Moralia», verdanke ich es unter anderem, dass es mir Anfang der fünfziger Jahre gelang, mich von dem damals übermächtigen Martin Heidegger zu distanzieren, der noch als Emeritus den Hörsaal wie ein Denkwebel beherrschte.
SPIEGEL: Genügte dazu nicht Heideggers Verstrickung in die Nazi-Politik der dreißiger Jahre, als er sein Freiburger Rektorenamt nach Führervorbild wahrnahm?
Marquard: Die verbrecherische Nazi-Irrfahrt hat mich überhaupt erst dazu gebracht, Philosophie zu studieren. Ich wollte wissen, wo es nun langgeht, wie man es denkend vermeiden kann, dass uns so etwas noch einmal passiert. Aber was Heidegger betrifft, so war es damals für einen Philosophie-Studenten eine ambivalente Situation: Der Vater riet ihm, bei dem kannst du auf keinen Fall studieren, die Mutter sagte, nur bei dem kannst du wirklich etwas lernen.
SPIEGEL: Aus dieser Zwickmühle hat die radikale Kritik der Frankfurter Schule, etwa am autoritären Charakter der Deutschen, Ihnen herausgeholfen. Aber später haben Sie sich auch von den Frankfurtern distanziert …
Marquard: … ja, ich fand irgendwann die Dauerrede vom «schlechten Bestehenden» übertrieben. Ich fand, die Menschen sind viel zu zerbrechlich, um sich die Totalnegativierung des wirklichen Lebens, diesen permanenten Luxus des Krisenstolzes leisten zu können. Gegen diese philosophische Wacht am Nein und ihre stetig steigende Jammerrate halte ich den nüchternen Blick auf das, was an der modernen Welt Nicht-Krise ist, die Einübung in die Zufriedenheit damit, dass das Leben endlich und bunt ist; und dass die Entzweiung in den rationellen Fortschritt, heute Globalisierung genannt, einerseits und die vielen unterschiedlichen Herkunftstraditionen andererseits nicht überwunden, sondern ausgehalten werden muss. Und zwar so, dass eins das andere kompensiert. Das hat so schon Joachim Ritter, mein Lehrer, gesehen.
SPIEGEL: Was ist, von diesen allgemeinen Bedenken abgesehen, Ihr spezieller Einwand gegen Habermas?
Marquard: Auf die rechte Verweigerung der Bürgerlichkeit – bei den Nazis – folgte in Deutschland nach 1968 die linke Verweigerung von Bürgerlichkeit. Ich plädiere für die Verweigerung dieser Bürgerlichkeitsverweigerung. An Habermas kritisiere ich den geschichtsphilosophischen Monotheismus, die These von der absoluten Alleingeschichte der Emanzipation, von der Totalgeschichte der Weltverbesserung, und ein Diskurs-Ideal, das die Vielfalt der Geschichten und Meinungen nur als Anfangskonstellation gestattet. Das Diskurs-Ziel ist der Konsens, als das Ende, an dem nur noch eine einzige Meinung, und damit ein meinendes, total aufgeklärtes Über-Wir, herrscht. Das zerstört nicht nur die Vielfalt der Meinungen, Geschichten, Sprachen, Sitten, Küchen, die doch unser kleines, kurzes Leben durch andere Leben bereichert. Darin steckt auch ein autoritäres Dissensverbot, die mythenfeindliche Ermächtigung durch eine Alleinvernunft, die es stört, dass man erzählt, statt sich zu einigen. Dieser Diskurs ist die Rache des Solipsismus an seiner Vertreibung. Nein, die Philosophie muss das Gespräch fundamentaler bejahen und dabei wieder erzählen dürfen.
SPIEGEL: Da spricht der «Transzendentalbelletrist», der die erzählte «Vize-Lösung» – beides Formulierungen von Ihnen – der strengen und anstrengenden Begründung des Lebensganzen durch ein Prinzip vorzieht und sich einfach weigert, eine definitive Grund-Entscheidung zu treffen, die ihm unbequem werden könnte – etwa politisch. Habermas nannte Ihr Denken einmal die «Ohne-mich-Philosophie».
Marquard: Und ich habe ihm geantwortet, das sei bloß die Ohne-ihn-Philosophie. Nein, ich spreche als Skeptiker, der jedem absoluten Text, der einzig möglichen Lesung einer heiligen Schrift misstraut – das war die erste Lehre, die ich nach 1945 aus der Alleingeschichte der Nazis zog, eine Grundhaltung des Erschreckens und der Ernüchterung – und der sich an Stelle der einen Freiheit durch Vernunftregie die vielen Freiheiten verschiedener Lesarten und vieler Geschichten wünscht. Der Skeptiker redet mit allen, der Diskursethiker letztlich nur mit Gleichgesinnten.
Mein zentraler Satz, der sich auch gegen die Systemphilosophie des deutschen Idealismus, etwa von Fichte, wendet, lautet dabei: Wir können mit dem Leben nicht warten auf die prinzipielle Erlaubnis, es nunmehr anfangen und leben zu dürfen – denn der Tod ist schneller. Für totale Begründungen und Änderungen, für absolute Sprünge eines die Geschichte autonom beherrschenden Tätermenschen, seien sie revolutionär oder reaktionär, sterben wir zu früh.
Glauben Sie bloß nicht, dieses Ja zum Unvollkommenen sei für mich bequem gewesen. Gerade nach 1968 gab es, in der DDR erst recht, aber auch im Westen des Landes, eine Präferenz des Marxismus, für den auch ich anfällig war. Da war der revolutionäre Traum vom Himmel auf Erden auch unter Philosophen der herrschende Diskurs, ein Traum, der ja in die irdische Identität von Himmel und Hölle mündet, wie die Geschichte bewiesen hat.
SPIEGEL: Sind Sie ein konservativer Spießer?
Marquard: Der Begriff des Spießers bedarf auch der Überprüfung. Ich sage: Nicht jede Veränderung ist per se gut. Die Beweislast trägt nicht das Vorhandene und Überkommene, sondern der Veränderer. Nur insofern bin ich konservativ. Ich bin gegen den Generalverdacht, alles Überkommene sei unvernünftig und müsse deshalb geändert werden. Ich bin gegen die ständige Stimulierung des Außerordentlichkeitsbedarfs, eine deutsche Krankheit, die damit zu tun hat, dass die Deutschen lange die Nation entbehren und reale Veränderungen durch absolute Philosophie kompensieren mussten. Die Enttäuschungen, die daraus resultieren, nähren immer neu die Sehnsucht nach dem Außerordentlichen. Demgegenüber entlaste ich mich, indem ich erst einmal die Vernünftigkeit des Ererbten unterstelle, bis zum Beweis des Gegenteils.
SPIEGEL: Ist das nicht eine Schönwetter-Philosophie – allenfalls geeignet für relative Wohlstandszeiten wie die gegenwärtige? Hätte man mit Ihrer Philosophie jemals die Französische Revolution angezettelt? Wo bleibt der Skeptiker in krass inhumanen Zeiten?
Marquard: Der Skeptiker rechnet damit, dass seine Philosophie eine unter anderen ist. Er behauptet ja nicht, dass er ein universales Prinzip vertritt, das die Welt rettet. Ich schließe nicht aus, dass andere in einigen Punkten besser sind als ich, zum Beispiel mutiger beim Verändern. Gegen Missstände würde ich mich immer wehren, aber ohne dafür ein neues Prinzip zu suchen. Mein Plädoyer für die Bürgerlichkeit setzt natürlich den bürgerlichen Staat voraus, der ohne die Französische Revolution nicht das wäre, was er ist. Im Rahmen dieses liberalen Staates bin ich für den Ausgleich zwischen Erneuerung und Schicksal, Beschleunigung und Langsamkeit, Globalisierung und Herkommen. Damit würde ich dann einer totalen Globalisierung und Modernisierung Widerstand leisten.
SPIEGEL: Wer sagt, es gibt kein Absolutes, kann immer nur Vorläufiges von sich geben. Das gilt auch für die Grundhaltung der Skepsis.
Marquard: Ja, Skepsis ist der Entschluss zu einem vorläufigen Denken. Wenn die Erfahrung anderes lehrt, soll sie es tun. Aber bis dahin …
SPIEGEL: … gehen wir ins Kaffeehaus.
Marquard: Wäre auch nicht verkehrt. Wegen der Kürze des Lebens.
SPIEGEL: Bleibt der Skeptiker auch im Kaffeehaus sitzen, wenn ein Krieg gegen den Irak droht?
Marquard: Joachim Ritter hat eine Weile in der Türkei gelehrt. Er sagte, die schiere Modernisierung im Stile Atatürks allein sei es nun auch nicht. Es komme auf die Balance zwischen der Wahrung islamischer Traditionen und der Modernisierung an. Das gilt auch für den Irak. Allerdings bin ich mit der ursprünglichen Haltung unserer Regierung – auf keinen Fall Krieg, auch nicht, falls die Vereinten Nationen ihn beschließen – nicht einverstanden. Diese Festlegung vom Herbst, dieses Nein von vornherein war ein diskursiver Präventivschlag, typisch für die Generation der 68er, die kein Gewissen mehr zu haben brauchte, weil sie ja das Gewissen selbst war. Die friedenstheoretische Festlegung, einen Krieg von Anfang an auszuschließen und immer wieder rein politische Lösungen anzustreben, ist ja nicht durchzuhalten, sobald eine reale Bedrohung eine Notwehr erfordert.
SPIEGEL: Aber diese Festlegung entlastet uns und schont die Welt – das müsste Ihnen doch eigentlich sympathisch sein.
Marquard: Ja und nein, denn es fehlt in dieser frühen Festlegung das ernste Gespräch mit denen, die anders denken. Unsere Regierung hätte von Anfang an mit den anderen Europäern und der Uno sich beraten müssen. Und sollte der Mehrheitsentscheidung des Sicherheitsrats ganz pragmatisch folgen.
SPIEGEL: Wo bleibt bei Ihrem Ausgleich zwischen Tradition und Moderne die Religion?
Marquard: Die alte Frage: Wenn es Gott gibt, woher kommt dann das Böse? Sie ist noch nicht beantwortet. Meine Frau ist eine protestantische Pfarrerstochter. Ich bin ein halb gekippter Heide. Da ist es lebensgeschichtlich, nach einer so langen Ehe, einleuchtend, dass ich durchaus mit ihr sonntags in die Kirche gehe. Trotz oder auch wegen der ständig fortschreitenden Aufklärung hat die Religion Bestand und ihr Recht …
SPIEGEL: … als eine von vielen Geschichten. Sie haben sich selbst einen Polytheisten genannt, Sie huldigen vielen Göttern.
Marquard: Vielleicht ist die christliche Religion ja auch im Grunde polytheistisch. Denken Sie an die Trinität oder an die vielen verschiedenen Konfessionen. Wir brauchen viele Götter, viele Mythen – Geschichten, die gegen Uniformierung Widerstand leisten. Dafür brauchen wir Kirchen, aber auch gute Romane, Museen, Bibliotheken. Und die Philosophie.
SPIEGEL: Sie haben den Menschen einmal definiert als «primären Taugenichts». Eine pessimistische Sicht?
Marquard: Nein, eine Ermutigung zum Glücklichsein in der Endlichkeit, eine Entspannung angesichts der ewigen Anstrengung, es als endliches Wesen mit dem Absoluten, mit dem Ganzen und Endgültigen aufnehmen zu müssen – dazu taugen wir nicht. Wir sollten das Unvollkommene nicht immer nur schmähen, sondern es für durchaus zustimmungsfähig halten – solange wir leben.
SPIEGEL: Sind Sie der Ober-Taugenichts der deutschen Philosophie?
Marquard: Das kann man durchaus sagen. Aber man sollte auch hinzufügen, dass dieser Taugenichts einmal Fachgutachter für systematische Philosophie war und zum Präsidenten der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie gewählt wurde. Der Taugenichts ist vielleicht ein guter Agent fürs Übrigbleiben.
SPIEGEL: Wenn Sie wüssten, ich lebe nur noch einen Tag, was täten Sie an diesem letzten Tag?
Marquard: Schlafen. Weil ich wüsste, es ist der letzte Tag, würde das wohl nicht klappen. Aber ich schlafe nun mal sehr gern.
SPIEGEL: Herr Professor Marquard, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Das Gespräch führten die Redakteure Elke Schmitter und Mathias Schreiber.